Güllen. Ein Ort, irgendwo in Europa. Er könnte überall sein.
Die Theater AG hat unter der Leitung von Frau Canelo und Herrn Hasselmann in diesem Jahr den „Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt auf die Bühne gebracht: Claire Zachanassian kehrt nach 45 Jahren als Milliardärin nach Güllen zurück, ihre Heimatstadt, wo ihr damals das Herz gebrochen und die Ehre geraubt wurde und die nun vor dem Bankrott steht. Sie reist mit einem Sarg und einem finsteren Plan an: Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand ihren einstigen Geliebten Alfred Ill, den beliebtesten Bürger des Städtchens, tötet. Obwohl sie ihm zunächst ihre Unterstützung zusagen und das Angebot ablehnen, lassen sich die Güllener mehr und mehr von der Aussicht des Reichtums blenden, so dass sich die Schlinge um Alfred Ill immer enger zieht.
Kill Ill and make Güllen great again? Diese bitterböse Parabel von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahr 1956 über die Allmacht des Geldes, die käufliche Gerechtigkeit und die Umdeutung von Moral ist angesichts des politischen Weltgeschehens im Jahr 2025 aktueller denn je.
Die beiden Aufführungen am 5. und 6. März in der Aula der Lutherschule waren sehr gut besucht und haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Mit toller Bühnenenergie, bis in kleinste Details stimmig gelebten und gefühlten Rollen und einer präzisen szenischen Gruppendynamik faszinierten alle Darstellerinnen und Darsteller das Publikum nachhaltig. Gleichzeitig begeisterte die Veranstaltungstechnik AG mit vielfältiger und passender Lichtregie sowie mit prägenden Soundeffekten, wie vorbeifahrenden Züge, die des öfteren Reden der Bewohnenden des Dorfes übertönten. Am Ende gab es verdiente Standing Ovations und viel Kompliment für alle Beteiligten.
Das Ensemble zeichnete sich in diesem Jahr durch eine Mischung aus „alten Hasen“ und „neuen Talenten“ aus. Neben erfahrenen Schülerinnen und Schülern der Oberstufe, die zum Teil bereits seit vielen Jahren in der Theater AG zu sehen sind, und einigen ehemaligen Darstellenden, die auch nach dem Verlassen der Schule noch einmal an einer Produktion der Theater AG mitwirkten, war dieses Stück für mehrere Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe die erste Theaterproduktion an der Lutherschule. Sie wurden von dem begeisternden Spirit des Theaterspiels derart eingenommen, dass wir uns bestimmt in den nächsten Jahren auf viele weitere Theatervorstellungen mit ihnen freuen können.
Alle alten und neuen Darstellenden konnten in diesem Stück glänzen. Caroline Gärtner brillierte in der Rolle der Claire Zachanassian mit einer ausdrucksstarken Darstellung der dominierenden, gefühlskalten, männerverachtenden, aber auch in der Vergangenheit extrem verletzten Rolle bis hin zu exakt gesetzten Akzenten und Gesten im Kleinen. Emil Hofmann gab dem Alfred Ill eine Vielzahl von emotionalen Facetten und stellte dessen intensive Entwickelung bis hin zur Akzeptanz der Todes mit einer unter die Haut gehenden Intensität dar. Robin Hohmann überzeugte bei der Darstellung der sehr schmierigen, manipulierenden aber auch selbstherrlichen Art des Bürgermeisters, und Kerem Köse zeigte eine authentische Entwicklung des Lehrers, der den moralischen Verfall der Gesellschaft zunächst erkennt, ihn sich im Laufe der Geschichte aber wie alle anderen Güllener schönredet und ihn am Ende am eindrucksvollsten umdeutet.
Auch bei den anderen Güllnern kann Alfred Ill keine Unterstützung finden: Maya Krysiak gab der korrupten Komissarin eine wunderbare ironisch-sarkastische Note. Niels Rehr spielte einen ungeduldigen, nur vordergründig mitfühlenden Pfarrer, der Ill in einer dramatischen Szene angesichts der zunehmenden Bewaffnung aller Güllener zur Flucht aufruft. Zahara-Iman Frayge zeigte ihre darstellerische Wandlungsfähigkeit in einer Doppelrolle als auf eine künstlerische Karriere hoffende Malerin und um Gnade für das Dorf bittende Ärztin. Weitere in Güllen lebende Charaktere wurden interpretiert von Sarah Goichmann (sehr präsent als Metzgerin mit einer ultimativen Entschlossenheit), Leon Cluesmann (in einer Wandlung vom Bild-Zeitungs-lesenden, am Bahnhof herumlungernden Arbeitslosen hin zum herausgeputzten Geschäftsmann), Nasli Alizad Hamed (omnipräsent als umtriebiges Fräulein Louise) und Louisa Murray, die neben der gelangweilten Dorfbewohnerin auch als herrlich-schnippische Tochter von Alfred Ill glänzte. Guilherme Oliveira Resende Szalek wendet sich als arroganter Sohn von Ill ebenfalls zugunsten des Reichtums von seinem Vater ab, und Johanna Sophie Freund tritt neben der etwas unscheinbaren, aber stets geschäftigen Frau von Ill noch als resolute Schaffnerin und noble Kundin in Ills Laden auf. Ebenfalls in mehreren Rollen trat Nella Fischer auf, sie interpretierte eindrucksvoll am Ende des Stückes eine sensationsgierige Reporterin und Fernsehmoderatorin, die über das Treiben in Güllen berichtet, aber auch zu Beginn eine brutale Pfändungsbeamtin und in der Mitte des Stückes eine tratschfreudige Kundin in Ills Laden.
Für eindrucksvolle und skurrile Momente sorgten die Besuchenden des „Team Claire“: Kendrick Faundez-Witting, der die Gatten Nr. VII – IX der Claire Zachanassian darstellte, sorgte dank seines komischen Talents bei der Darstellung unterschiedlichster Typen mit unterschiedlichsten Körperlichkeiten und Kostümen mit jedem Auftritt für Gelächter im Publikum. Anna Reese und Lara Nassif Moledo interpretierten die „kastrierten und geblendeten“ Begleiter Koby und Loby der Claire in perfekter Synchronität, wobei die Tragik dieser Figuren auch in deren kleinsten Auftritten deutlich wurde. Jolina Rezaii Panah glänzte mit körperlich präzisem Spiel bei der Darstellung der treuen Butlerin Boby der Claire, die sich im Stück als Oberrichterin offenbart, die Claires Klage abgewiesen hatte. Schließlich zeigte John Willem Reimer als Bodyguard Toby sowohl eine kühle Konsequenz als auch eine sentimentale Seite bei seinem Gitarrenspiel.
Unter dem Strich bleibt zu sagen: Es ist großartig, was die Schülerinnen und Schüler der Theater AG der Lutherschule jedes Jahr aufs Neue auf die Beine stellen!
Text und Bild HA